Samuel Zuberbühler
will mit Zwischennutzung des Waaghauses die Innenstadt beleben.
Niklaus Bayer (links) und Philipp Holderegger blicken auf die 100-jährige Geschichte der Caritas zurück und haben zusammengezählt 35 Jahre davon mitgeprägt.
Vor 100 Jahren wurde im Kanton St.Gallen das erste Caritassekretariat gegründet. Das Jubiläum wird in diesem Jahr mit diversen Aktivitäten gefeiert – unter anderem mit Tagen der offenen Türen in den Caritas Märkten. Der heutige Geschäftsführer Philipp Holderegger und der einstige Verantwortliche für Pfarreianimation, Niklaus Bayer, blicken zurück auf die bewegte Geschichte der Institution. Dabei zeigt sich: Die Caritas-Arbeit ist auch ein steter Kampf gegen Windmühlen.
Hilfswerk «Heute hinstehen zu können und sagen zu dürfen, dass es die Caritas St.Gallen-Appenzell seit 100 Jahren gibt, macht mich stolz», sagt Philipp Holderegger. Seit zehn Jahren wirkt er als Geschäftsführer. Nebst der Freude hat das Jubiläum für ihn auch einen bitteren Beigeschmack. Denn: Seit 100 Jahren brauche es die Caritas, und die Situation sei nicht besser geworden. Zu sehen, wieviel Leid und Armut gewisse Lebensereignisse wie Flucht, Scheidung, Krankheit, Verlust der Arbeit oder Sucht nach sich ziehen, beschäftigt ihn täglich. Tausenden von Menschen habe das katholische Hilfswerk im Verlauf der hundertjährigen Geschichte Hoffnung geschenkt. «Ohne uns würde es niemanden kümmern, wie es armen Menschen geht – also jenen, die in den Caritas-Märkten einkaufen oder beispielsweise eine Schuldenberatung bei der Caritas in Anspruch nehmen.»
Einer, der 25 Jahre für die Caritas St.Gallen-Appenzell tätig war, ist Niklaus Bayer aus St.Gallen. Bis zu seinem Abgang im Jahr 2011 betreute er den Bereich Pfarreianimation, gab Schulungen im ganzen Kanton und baute ein grosses Netzwerk auf. «Bei der Gründung des ersten Caritassekretariats vor 100 Jahren war es der Pfarrer, der sagte, was zu tun ist. Es gab noch keine Sozialämter. Die Kirche gab den Menschen Brot und Leintücher», so Niklaus Bayer. Es sei deshalb die Entwicklung der Caritas – von der einfachen Sekretariatsstelle bis zum heutigen, breit gefächerten Angebot – das ihn am meisten freue.
Diese Entwicklung hatte aber auch Tücken. Allein in den letzten 25 Jahren musste sich das Hilfswerk mehrfach neu erfinden. Bis zur Jahrtausendwende, als man längst zu einer grossen diözesanen Stelle gewachsen ist, war eines der Kernthemen die Flüchtlingshilfe. Doch genau dieser Bereich brach jäh weg, als der Bund das Flüchtlingswesen an die Kantone weiterreichte und der Kanton St.Gallen dies sodann an die Gemeinden delegierte. «Das für Integrationsprogramme vorgesehene Geld steckten die Kommunen lieber in die eigene Kasse, um selbst Angebote aufzubauen, statt mit erfahrenen Institutionen wie der Caritas zu kooperieren», erinnert sich Niklaus Bayer. Dadurch standen der Caritas viel weniger Mittel zur Verfügung.
Caritas St.Gallen-Appenzell engagierte sich dennoch weiterhin im Asylbereich. Und nach 2008 baute man die Angebote trotz fehlender Verträge so weit aus, dass man zunehmend in finanzielle Schieflage geriet. Als Philipp Holderegger vor zehn Jahren zum Geschäftsleiter gewählt wurde, bekam er einen klaren ersten Auftrag: Die Caritas sanieren und redimensionieren. «Ich hatte 54 Mitarbeitende übernommen und als Erstes auf 18 reduziert», so Holderegger. Von Arbeitsagogen über Jobcoaches bis hin zu Deutschlehrpersonen und Servicepersonal – viele waren betroffen.
Bei allen Hochs und Tiefs blieb eine Sache unverändert: «Die Caritas schaut, wo es weh tut, wo die Menschen am Rudern sind und nicht weiterkommen», sagt Philipp Holderegger. Und Niklaus Bayer fügt an: «Wenn dann andere Institutionen diese Not zu ihrer Aufgabe machen, kann sich die Caritas zurückziehen und mit ihrer Pionier-Ader wieder schauen, wo es jetzt am meisten weh tut.» Und so wurden im Verlauf der Geschichte verschiedene Felder geöffnet und manchmal wieder geschlossen, von der Schuldenberatung über Integrationsprojekte, Sprachkurse, Rechtsberatungsstelle für Asylbewerber und vieles mehr. Einst hatte man gemäss Philipp Holderegger auch Menschen mit Behinderung auf dem Radar. Doch hierzu gäbe es heute Organisationen wie Pro Infirmis oder Procap, die sich darauf spezialisierten. Dasselbe gelte für die Suchthilfe.
Heute wird die Caritas vor allem mit Menschen in Armut in Verbindung gebracht. Das heisst gemäss Philipp Holderegger aber nicht, dass Flüchtlinge, Schuldenberatung oder Arbeitsvermittlung überhaupt keine Themen mehr seien. Im Gegenteil: «Das alles kann man unter dem Oberthema Armut subsumieren», sagt der Geschäftsführer. Besonders sichtbar wird die Armut in der Gesellschaft durch die Caritas-Märkte; schweizweit gibt es 23. Sie sind gemäss Holderegger jedoch nur eine Linderung und keine Lösung. Umso wichtiger sei es, dass man bei der Caritas auch eine Sozialberatung oder die Diakonieanimation habe. Letztere unterstützt nicht nur Mitarbeitende beim Engagement für hilfesuchende Menschen, sie lanciert im ganzen Kanton auch Projekte, um allen – insbesondere der Politik – die Armut vor Augen zu führen. Niklaus Bayer: «Viele glauben nicht, dass es bei uns Armut gibt. Deshalb muss man es immer wieder aufzeigen. Und für Betroffene ist oft nicht die Armut das Schlimmste, sondern der damit verbundene Ausschluss – also wenn ein Kind beispielsweise nicht ins Lager mitfahren kann.»
Das 100-Jahr-Jubiläum der Caritas St.Gallen-Appenzell wird verschiedentlich gefeiert. Am 8. Juni gibt es in den Caritas-Märkten St.Gallen, Wil und Rapperswil-Jona einen Tag der offenen Türen, zu dem die Bevölkerung eingeladen ist. Am 16. August können die Regionalstellen St.Gallen, Sargans und Uznach besucht werden. Und am 9. November wird das Jubiläum mit einem Gottesdienst in der Kathedrale St.Gallen gefeiert. Die Caritas als katholisches Hilfswerk bekommt vom Katholischen Konfessionsteil des Kantons St.Gallen einen jährlichen Betriebsbeitrag von 1,4 Millionen Franken.
pd
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