Roche Hufnagl
Kunstschaffende hauchen dem Bahnhof Bruggen neues Leben ein.
Volle Fahrt voraus: Andreas Hobi fährt Herrn Köppel und Frau Müller mit der E-Rikscha durch Mörschwil.
Wieder den Wind im Gesicht spüren, vertraute Wege entdecken und in Erinnerungen schwelgen: Der Verein «zeme unterwegs» macht es möglich. Mit E-Rikschas bringen Freiwillige betagte und demenzbetroffene Menschen hinaus in die Natur. Ein Morgen in Mörschwil zeigt, wie eine solche Fahrt Berge versetzen kann – und Herzen berührt.
Ehrenamt Der Wind streicht über das Gesicht, der Blick schweift über die sanften Hügel des Appenzellerlandes, der Bodensee glitzert in der Ferne. Hermann Köppel, bald 91 Jahre alt, sitzt in der Rikscha und lächelt. Es ist nicht nur eine Ausfahrt – es ist eine Reise zurück in die Vergangenheit. Die Frühlingssonne kämpft sich durch die Wolken, als wir vom Wohn- und Pflegezentrum GHG Maurini in Mörschwil starten. Pilot Andreas Hobi tritt kräftig in die Pedale, unterstützt vom Elektromotor. Neben mir unter der knallroten Decke auf der Sitzbank der Rikscha sitzt Hermann Köppel, der früher als Pflegefachmann im Kantonsspital St.Gallen gearbeitet hat. Er hat viele Jahre in Mörschwil gelebt, doch mittlerweile sind Spaziergänge für ihn beschwerlich geworden. Heute aber fährt er durch «sein» Dorf – und es gibt kaum einen Baum, kaum eine Strasse, zu der er nicht eine Geschichte erzählen kann.
«Zeme unterwegs» ist mehr als nur eine nette Idee. Gegründet wurde der Verein 2023, hervorgegangen aus dem früheren FC Stadtverwaltung St.Gallen, dessen Vereinsvermögen für die Finanzierung der ersten E-Rikscha genutzt wurde. «Wir wollten etwas Sinnvolles tun, das den Menschen wirklich Freude bereitet», erklärt Stephan Wenger, Vereinspräsident und Gründungsmitglied. Mittlerweile zählt der Verein rund 20 ehrenamtliche Pilotinnen und Piloten – die meisten sind pensioniert, drei Frauen und 17 Männer. «Unsere Fahrgäste sind überwiegend Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen, aber auch jüngere Demenzbetroffene aus der Institution MOSAIK», sagt Hobi. Der Betrieb erfolgt eng abgestimmt mit den Heimen. «Wir planen die Fahrten jeweils ein halbes Jahr im Voraus», erläutert Hobi. «Würden wir unser Angebot beliebig öffnen, könnten wir das organisatorisch nicht mehr stemmen.» So bleibt es vorerst im Normalfall bei dieser heimspezifischen Dienstleistung, wobei die eine oder andere Ausnahmefahrt durchaus mal drinliegt: «Wir können nicht den ganzen Tag Rikscha fahren – viele von uns haben Enkel oder andere freiwillige Engagements.»
Wir rollen die Bahnhofstrasse entlang, biegen auf die Huebstrasse ab. «Dort drüben, das alte Armenhaus», sagt Köppel und zeigt mit leuchtenden Augen auf das Gebäude. «Da bin ich früher oft vorbeigekommen. Und hier vorne, schau mal, der Blick! Einfach paradiesisch.» Tatsächlich: Vor uns eröffnet sich eine grandiose Aussicht auf den Bodensee. Der See schimmert in der Frühlingssonne, am Ufer ragen die Kirchtürme von Rorschach in den Himmel. Wir fahren weiter über den Bergacker, passieren die Bahnlinie. Wir tauchen in den Wald ein, der Weg wird schmaler. Vögel zwitschern, die Luft riecht nach feuchtem Holz. Ein Bienenhaus steht am Wegesrand, dahinter erstreckt sich die Straussenfarm. «An dieser Obstplantage bin ich oft vorbei spaziert», erinnert sich Köppel. «Aber die Bäume stehen noch nicht in der Blüte.»
«Zeme unterwegs» finanziert sich durch Spenden, Stiftungsbeiträge und einen Jahresbeitrag der beteiligten Heime und Institutionen. Eine Anschubfinanzierung gab es auch von der Stadt St.Gallen. «Gerade starten wir ein Crowdfunding, um eine dritte Rikscha anzuschaffen», erzählt Hobi. «Die Nachfrage steigt, und wir möchten noch mehr Menschen diese Erfahrung ermöglichen.» Zudem ist der Verein Partner der Zeitvorsorge St.Gallen. «Unsere Pilotinnen und Piloten können dadurch Sozialzeitguthaben sammeln, das sie später für eigene Betreuungs- oder Hilfsleistungen einsetzen können», erläutert Wenger. «Viele von uns tun es aber einfach aus Freude an der Sache. Wenn die Leute in der Rikscha zu lächeln beginnen, ist das der schönste Lohn.» Auch Kritik, wonach ein Angebot dieser Art keine nachhaltige Lösung gegen soziale Isolation sei, nimmt Wenger an: «Wir wollen und können kein Komplettkonzept bieten. Aber wir sind ein wertvoller Mosaikstein im Netzwerk für ältere Menschen. Manchmal braucht es genau diese kleinen Lichtblicke.»
Unser Weg führt weiter über kleine Strassen, vorbei an Hundwil und Beggetwil. Köppel blickt neugierig umher, dann beginnt er zu lachen: «Hier bin ich noch nie durchgekommen!» Die Strecke, die Pilot Hobi gewählt hat, ist für ihn eine Überraschung. Plötzlich versperrt ein Lastwagen den Weg. Köppel lacht: «Typisch! So etwas passiert mir auch noch mit gut 90!» Wir nehmen eine Abkürzung über den Hof des Beeribuurs, wo Köppel einige Bekannte trifft. Ein kurzer Schwatz, dann geht es weiter. Immer wieder hält er inne, betrachtet die Landschaft. Erinnerungen tauchen auf: An seine Arbeit im Operationsbereich, an sein früheres Zuhause an der Gallusäckerstrasse, an seine verstorbene Frau. «Sie war eine wundervolle Frau», sagt er leise und sichtlich emotional.
Annina Frey, Aktivierungsfachfrau im Wohn- und Pflegezentrum GHG Maurini, überzeugt das Projekt. «Die Bewohnerinnen und Bewohner sind immer begeistert, wenn sie von einer Rikscha-Tour zurückkommen. Es ist eine ideale Ergänzung zu unseren bisherigen Aktivitäten.» Frey erklärt, dass das Angebot sehr niedrigschwellig sei: «Wenn jemand nicht akut dement ist, keine schlimmen Velo-Stürze in der Vergangenheit erlebt hat und sich auf die Fahrt einlassen mag, dann steht einer Tour nichts im Weg. Wir hoffen, dieses Angebot in Zukunft noch regelmässiger anbieten zu können.» Tatsächlich scheint sich die Begeisterung herumzusprechen. Die Tochter eines Heimbewohners fragt neugierig: «Was ist das für ein Gefährt? Kann man das mieten?» Frey lacht: «Das ist ein Rikscha-Dienst von‚ zeme unterwegs‘. Wer bei uns im Heim wohnt, kann sich dafür anmelden.»
Wir erreichen das Zentrum von Mörschwil. Gerade als wir an der Kirche vorbeifahren, läuten die Glocken. Köppel hört ihnen eine Weile zu. Dann drehen wir eine letzte Runde über die Paradisstrasse und die Reggenschwilerstrasse. Doch plötzlich: Der Akku gibt den Geist auf. Ein kurzer Stopp, Wechsel des Akkus – und weiter geht's. Über die Schimishusstrasse steuern wir Schloss Watt an. Die Kühe auf der Weide schauen uns neugierig nach. Der Wind wird kühler, zieht um die Nase. Dann sind wir wieder im Dorf. Nach einer guten Stunde endete unsere Fahrt dort, wo sie begonnen hatte. «Alles hat seine Zeit», sagt Köppel, als er aus der Rikscha steigt. «Nicht nur das Leben, sondern auch diese wunderbare Ausfahrt.» Und sein Lächeln sagt mehr als tausend Worte.
Von Benjamin Schmid
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