Ursula Forrer
feierte mit der Stiftung Zeitvorsorge das 10-Jahres-Jubiläum.
Marina Rauchfuss hilft Opfern sexualisierter Gewalt bei der Verarbeitung.
Während die Mehrheit der Menschen das neue Jahr empfangen, erlebte Marina Rauchfuss am Silvester 2003 die schlimmste Nacht ihres Lebens. Von K.-o.-Tropfen betäubt, verging sich ihr damaliger Lehrmeister während Stunden an ihr. Erst zwölf Jahre später war es ihr möglich, das Schweigen zu brechen und über die Tat zu sprechen.
Hoffnung An die Nacht, die ihr Leben veränderte, kann sie sich noch bruchstückartig erinnern. Die Erinnerungen kehren zurück, als sie am nächsten Morgen im Bett neben dem Lehrmeister erwacht. «Ich war schockiert, flüchtete ins Badezimmer, schloss mich ein und duschte.» Während sie unter der Dusche stand und versuchte, sich zu reinigen, zogen vereinzelte Bilder der Nacht an ihr vorbei. Bilder des Schreckens. Sie sehnte das Ende des Albtraums herbei, doch die schockierende Wahrheit blieb.
Marina Rauchfuss kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen. In Goldach aufgewachsen, war sie seit frühester Kindheit häuslicher Gewalt ausgesetzt. «Schon früh habe ich im Überlebensmodus funktioniert», erklärt die heute 36-Jährige. «Wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, fand ich in der Natur Ruhe und Kraft, um das Umfeld aus Alkohol und Gewalt zu ertragen.» Als Jugendliche gab ihr der Gedanke, eine Lehre zu absolvieren und ihr eigenes Leben zu starten, Kraft, die Torturen auszuhalten. Entsprechend gross war ihre Freude darüber, als sie im Spätsommer 2003 ihre Lehre zur Verkäuferin starten konnte. Die Lehre war ihr Weg aus der Misere. Als es bei ihr zuhause kurz vor Weihnachten einmal mehr eskalierte, hat sich Rauchfuss ihrem damaligen Lehrmeister anvertraut. Dieser habe alles in die Wege geleitet, um sie in einer Pflegefamilie unterzubringen. «Ich fühlte mich tief in einem Brunnen gefangen», erinnert sich Rauchfuss, «ich war verzweifelt, aufgelöst und desillusioniert.» In dieser Situation gab ihr der Lehrmeister vermeintlich Halt, Kraft und Hoffnung. Er sei wie ein Vaterersatz gewesen, habe sich um sie gekümmert und für sie gesorgt. Der Mann, der damals getrennt von seiner Frau in einem Hotel lebte, habe den Moment ihrer tiefsten Verletzlichkeit ausgenutzt, sie alkoholisiert und zu sich aufs Zimmer geschleppt, betäubt und missbraucht.
Paralysiert wurde sie von ihrem Lehrmeister nach der Tat zur Pflegefamilie gefahren, wo es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, dass sie Opfer von sexualisierter Gewalt wurde. «Ich realisierte wohl, was geschehen ist, konnte es aber weder einordnen noch verstehen», erinnert sich Rauchfuss. Da war sie, eine 16-jährige Jugendliche, die nicht wusste, wie ihr geschah und keiner war da, um sie zu unterstützen. Der stellvertretende Filialleiter, dem sie sich offenbarte, empfahl ihr, zur Polizei zu gehen, wollte sie aber nicht begleiten. Aus Angst und Scham war Rauchfuss nicht im Stande, sich aufzuraffen und allein zu gehen. Also kam es zu keiner Anzeige. Im Lehrbetrieb indes wurden Massnahmen getroffen, der Lehrmeister entlassen und Rauchfuss versetzt. Trotzdem hat es ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. Sie fühlte sich noch mehr alleingelassen, niemand war für sie da. «Ich war völlig demoralisiert und fragte mich ernsthaft, wieso ich noch auf der Welt bleiben sollte», sagt Rauchfuss. Sie hätte mit allem abgeschlossen und sich entschlossen, das Leben zu beenden. Kurz bevor sie zur Tat schritt, schaute sie in den Sternenhimmel, hielt einen Moment inne, spürte, wie die Natur ihr Kraft gab und erkannte, dass es auf der Welt noch so viel Schönes gebe, das sie erleben möchte. In jenem Moment begann ein kleines Flämmchen in ihr zu lodern und eine innere Stimme sagte ihr, dass sie sich nicht einfach aufgeben dürfe.
Die Wochen und Monate vergingen, Rauchfuss zog sich zurück, kapselte sich ab. «Ich war traumatisiert, fühlte mich allein gelassen und vertraute mich niemandem mehr an», erzählt die vierfache Mutter. Irgendwie habe sie die Lehre abgeschlossen und bestanden, sei dann mit 18 Jahren 2005 von zu Hause ausgezogen und zwischenzeitlich in die Marihuana-Sucht abgerutscht. Während dieser Zeit konnte sie keine normale Beziehung führen, vertraute niemandem und vergrub ihre Gefühle und Erinnerungen tief in sich. Erst 2008, als ihr heutiger Ehemann in ihr Leben trat, änderte sich einiges. «Es war Liebe auf den ersten Blick», sinniert Rauchfuss. «Wir verstanden uns auf Anhieb, er war bodenständig, sympathisch und interessierte sich ernsthaft für mich.» Sie zogen zusammen, heirateten und bald darauf kam ihr erster Sohn auf die Welt. Alles schien sich ins Positive zu entwickeln, Rauchfuss blühte auf und blickte in eine bessere Zukunft. Doch tief verborgen in ihr schlummerte ihre Vergangenheit, die eines Tages in Form einer Panikattacke an die Oberfläche trat. «Im Alltag mit Mann und Kindern sind immer mehr Trigger aufgetaucht», erinnert sich die 36-Jährige, «ich fühlte mich hilflos und unwohl.» Zu jener Zeit habe sie sich intensiv mit sich selbst beschäftigt und versucht, das Trauma zu beseitigen. Obwohl sie viel ausprobiert hatte, habe ihr nichts gebracht, bis die Bombe 2015 platzte.
«Zwölf Jahre nach dem Übergriff habe ich mich 2015 geoutet», sagt Rauchfuss. Während ihre Eltern geschockt reagierten, sich aber nicht weiter äusserten, war ihr Ehemann wütend und mitfühlend zugleich. Sofort ermutigte er sie dazu, eine Therapie zu beginnen, um das Trauma professionell anzugehen. «Ich war zunächst überhaupt nicht begeistert von der Idee, mich therapieren zu lassen und mich einer fremden Person anzuvertrauen», gesteht Rauchfuss ein, «aber nach einer Weile war ich bereit, der Familie zuliebe Hilfe anzunehmen.» Tatsächlich verflogen die anfänglichen Zweifel rasch und dank intensiver Zusammenarbeit mit der Psychiaterin öffnete sich Rauchfuss langsam. Neben den wöchentlichen Therapiesitzungen verbrachte Rauchfuss viel Zeit in der Natur, mit der sie seit jeher eine besondere Verbindung teilt. «Sieben Jahre Therapie brachten mich so weit, alles zu verdauen und anzunehmen», erklärt die heutige Erfahrungsexpertin. Nach und nach hätte sich das Puzzle zu einem Bild zusammengefügt und in ihr reifte der Wunsch, dass sie anderen Betroffenen mit ihrer Erfahrung helfen möchte. Die kleine Flamme in ihr entwickelte sich über die Jahre zu einem lodernden Feuer. «Ich machte mich selbstständig, absolvierte verschiedene Coaching-Ausbildungen und begann, mein Wissen mit den Menschen zu teilen», sagt Rauchfuss. Aktuell organisiert sie mit der Selbsthilfe St.Gallen zusammen eine Gruppe zum Thema sexualisierte Gewalt. Eine Anzeige sei für sie heute nicht erfolgversprechend, da bei sexualisierter Gewalt die strafrechtliche Gerechtigkeit nach so langer Zeit schwierig zu erreichen sei, schliesslich müsste sie der beschuldigten Person das Delikt nachweisen können. Ansonsten gelte der Freispruch «in dubio pro reo».
Obwohl sie strafrechtlich keine Gerechtigkeit erfahren wird und sie jederzeit damit rechnen muss, ihrem Peiniger über den Weg zu laufen, hat sie mit der Vergangenheit abgeschlossen: «Manchmal hege ich Groll, aber es ist meine Geschichte, sie gehört zu mir und hat mich dahin geführt, wo ich heute stehe», resümiert Rauchfuss. «Ich bin stolz darauf, was ich erarbeitet habe. Wenn ich heute in die Augen meiner Kinder schaue, bin ich froh, dass ich mich damals für das Leben entschieden habe.»
- Opferhilfe SG – AR – AI: Bera tung für Opfer und Finanzielle Hilfe
- Soforthilfe nach sexualisierter Gewalt Kantonsspital SG
- Polizei
- Kinderschutzzentrum SG
Die Gruppe zu sexueller Gewalt ist ein ergänzendes Angebot zu einer Therapie und wird von einer Fachperson geleitet. Am 30. April um 18.30 Uhr findet ein Informationstreffen statt. Anmeldung und weitere Informationen unter: 071 222 22 63; www.selbsthilfe-stgallen-appenzell.ch
Die Selbsthilfe St.Gallen und Appenzell setzt sich für die Stärkung gemeinschaftlicher Selbsthilfe ein und führt rund 200 verschiedene Selbsthilfegruppen zu unterschiedlichsten Themen. Sie führt Menschen in ähnlichen Lebenssituationen zusammen. Ziel ist, durch Selbstverantwortung und gegenseitige Unterstützung die Lebensqualität und gesellschaftliche Integration von Personen in schwierigen Lebenslagen zu verbessern.
Von Benjamin Schmid
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